Newsnational Dienstag, 14.01.2020 |  Drucken


Murad Wilfried Hofmann 1931-2020: Ein persönlicher Nachruf

Von Muhammad Sameer Murtaza

Unwirklich, irritierend – nur so kann ich mein Gefühlsleben die ersten Stunden nach der Nachricht, dass Murad Hofmann von uns gegangen ist, beschreiben. Mein Mentor, der mir zu einem väterlichen Freund geworden war und mit dem ich in seinem Denkerzimmer über Gott und die Welt philosophiert habe, war nicht mehr in dieser Welt. Einfach so. Es würde keine weiteren Zusammenkünfte mehr geben. Keine gemeinsamen Gespräche. Kein gemeinsames Scherzen und Lachen. Keine gemeinsamen Bücher. Stunden später wurde das Herz dann schwer.  

Der Tod ist kein Ende, er ist ein Übergang. Murad ist nicht tot, er ist nur weitergegangen auf seinem Weg zu Gott. Ein Verstorbener lebt mit Gott und in den Erinnerungen von uns Zurückgebliebenen weiter. Dieser Tage erinnern sich unzählige Muslime weltweit jenes deutschen Muslims, der sie durch seine Haltung und seine Schriften beeinflusst, vielleicht ihnen sogar in ihrem Islamverständnis neue Weichen gestellt hat. Murad Hofmann war etwas, wovon junge Muslime hierzulande zu wenig haben, ein positives Vorbild. Jemand, der Muslim sein und Europäer sein anschaulich vorlebte. In seinen Werken verschmolz er die geisteswissenschaftliche Tradition des Okzidents und des Orients. Auf diese Weise erfüllte er Goethes Worte, dass beide Welten nicht mehr voneinander zu trennen sind.   Nachrufe zählen traditionell die großen Leistungen eines Menschen auf. Aber meine Gedanken drehen sich nicht um Murad, sondern um mich; wie mir jemand äußerst wichtiges in meinem Leben fortan fehlen wird. So interessant seine Bücher auch sein mögen, sie stellen nur einen Ausschnitt seiner denkerischen Weite dar. Der Mensch Murad Hofmann und seine offene Art den Islam zu leben waren so unendlich reicher.    

Ohne Murad Hofmann wäre mein Leben sicherlich anders verlaufen. Es waren seine intellektuellen Texte, in denen oftmals bei aller rationalen Herangehensweise der Verve eines Konvertiten, Verkünders und Gottesliebenden durchschimmern, die mich als Gymnasialschüler nicht nur aus der zwickenden Enge eines literalistischen Islamverständnisses befreiten, sondern mir zugleich geistiger Schild waren in heftigen Diskussionen mit meinem damaligen Geschichtslehrer, für den der Islam das Feindbild „Kommunismus“ ersetzt hatte.  

Später als Student entstand ein erster zaghafter elektronischer Schriftverkehr und zwei Einladungen zu Vorträgen nach Mainz. Schon die erste Begegnung sollte prägend sein. Durch das Milieu, in dem ich islamisch sozialisiert wurde, hatte ich ein ganz bestimmtes Bild mitbekommen, wie ein muslimischer Denker auszusehen hatte. Diese Schablone zerschmetterte Murad sogleich als mir ein modisch stilvoll in Jeans, schwarzem Rollkragenpullover und Sakko gekleideter Mann gegenüberstand, statt in arabischer Folkloretracht wie erwartet. Murad verdeutlichte mir, dass man als Muslim keinem bestimmten kulturellen Ausdruck verpflichtet ist oder sich arabisieren müsse. Gott gehört der Osten und der Westen. Als Muslim könne man Westler und Europäer sein, eingebettet in die Kultur seines Landes, statt sich affektiert eine abgrenzende Identität zu schaffen. Als Konvertit stand Murad seinem alten katholischen Glauben kritisch, nicht feindlich gesinnt, gegenüber und warb für ein gemeinsames statt einsames Schreiten von Christen und Muslimen als Zeugen Gottes in der Welt. Unvergessen bleibt mir auch die Weigerung der Johannes Gutenberg-Universität, dem Botschafter a. D. einen Raum zum Gebet zur Verfügung zu stellen, was dazu führte, dass wir unser gemeinsames Gebet in einem staubigen Flur unweit einer öffentlichen Toilette verrichteten.  

Nach einer persönlichen Krise mit meinem islamischen Milieu, auf die ein kurzzeitiges Abstandnehmen zu Gott und ein Verirren in unterschiedliche Denksysteme folgte, war es Murad, der mich auffing und auf das Gleis der islamischen Philosophie setzte. Er öffnete mein Tunneldenken und mein begrenztes Wahrheitsverständnis für die Schönheit der islamischen Vielfalt, wie sie sich in Architektur, Kalligraphie und der Literatur widerspiegelt. Gott war zu groß, um ihn in eine Definition von Islam einzusperren. Bei jedem Abschiednehmen gab er mir einen Stapel Bücher zum Lesen mit, später schenkte er mir einen beachtlichen Teil seiner Bibliothek. Murad war es, der mich zum Ende meines islamwissenschaftlichen Studiums ermutigte, Bücher zu schreiben und sie bei den ersten Gehversuchen auch kritisch gegenlas oder mit einem Geleitwort beehrte. Und wenn ich zögerte, insbesondere als heftiger Gegenwind von den Muslimbrüdern zu meiner kritischen Studie über sie aufkam, war es Murad, der mich stützte und zum Weiterschreiben aufforderte.  

Murad war mir zunächst geistige Größe, Mentor und Ratgeber und wurde schließlich zum väterlichen Freund. Am meisten lernte ich von ihm, was es bedeutete alt zu werden. Dieser Tage mag die muslimische Gemeinschaft einen großen Verlust bedauern, aber wie viele haben tatsächlich seine Bücher gelesen und sich kritisch mit Murads Schriften und damit mit ihrem eigenen Islamverständnis auseinandergesetzt? Murad mag ein begehrter Referent gewesen sein, aber wie viele interessierten sich für den Privatmenschen Murad Hofmann? Es gibt ein Alleinsein auch in der Gemeinschaft, ein Thema, das Murad hin und wieder in unseren Gesprächen streifte. Bei meinen letzten Besuchen verstand ich auch, dass wir alle letztendlich ein Kompositum unterschiedlicher Prägungen und Erfahrungen sind, die wir im Laufe unseres Lebens ansammeln. Und diese können durchaus im Widerspruch zueinanderstehen. Solange wir geistig stark sind, vermögen wir es, alle diese Facetten durch unseren Willen zu bündeln und im Zaum zu halten, wenn aber im Alter die Geisteskräfte nachlassen, erlangen sie Macht über uns und die inneren Bruchlinien werden für Außenstehende sichtbar. Bei Murad waren es meiner Ansicht nach Liberalität und Moralismus, Philosophie und Dogma. Und diese Bruchlinien warfen gegen Ende sein Ich wie Wellen ein Stück Treibgut von der einen Seite zur anderen. Der Mann, der seinen Weg zum Islam mit einer philosophischen Schrift begonnen hatte und Zeit seines Lebens die Bedeutsamkeit der philosophischen Erkenntniskritik hervorhob, konnte mit einem Male die Philosophie aus einer dogmatischen Sichtweise „verteufeln“ und im nächsten sie durch Mitherausgabe einer entsprechenden Buchreihe fördern, ohne dass er sich über seine vorherige Gemütsregung bewusst war. Dies mitzuerleben war mitunter das Schwerste für mich.  

Bis zuletzt war es Murad ein wichtiges Anliegen, dass die deutschen Muslime durch ihren Glauben der Gesellschaft etwas anzubieten haben. Trotz des um sich greifenden Unwesens des Islam, also einer pervertierten Gestalt des Islam, in Form des islamisch verbrämten Terrorismus, beharrte er mir gegenüber darauf in Anspielung auf sein bekanntestes Buch, dass der Islam die Alternative sei, während ich eher für eine votierte, nämlich abhängig von ihren muslimischen Repräsentanten. Murad hatte sich jedoch in die geistige Idee des Islam verliebt und die Variable des fehlerhaften Muslims ausgeblendet. Auf seine Sichtweise mag der Spruch zutreffen, dass es das Beste sei, den Islam vor den Muslimen kennenzulernen. Er plädierte weiter dafür, dass Muslime ihre zahlreichen, aber letztendlich trivialen Differenzen beilegen und sich auf das besinnen, was sie gemeinsam haben und alle Unterschiede überwiegt: ihren gemeinsamen Glauben an Gott und an den Propheten Muhammad. Angesichts der zunehmenden Muslimfeindlichkeit und Moscheeanschläge, die ihm große Sorgen bereiteten, ist es nämlich am Ende egal, ob man Sunnit oder Schiit, sogenannter „liberaler“ Muslim oder einfach „nur“ Muslim sei; Muslimfeinde würden da keine Unterschiede machen. Am Ende träfe es alle, am Ende ginge es ums Überleben. Murad wusste wovon er sprach, er hatte die Judenverfolgung miterlebt und sich als junger Mensch aktiv am Widerstand gegen die Nationalsozialisten in einer jesuitischen Untergrundorganisation beteiligt.  

Als ich ihn das letzte Mal 2018 besuchen wollte, bat er mich, nicht mehr zu kommen. Er sei in einer geistigen Verfassung, in der er mir intellektuell nichts mehr geben könne. Vielleicht unterschätzte er, was er mir bedeutete, wahrscheinlicher ist, dass dieser so zerebrale Mann einfach anders in Erinnerung bleiben wollte. Muhammad Asad, Hofmanns Mentor, hatte seinerzeit Murads letzte Besuchsbitte auf ähnliche Weise ausgeschlagen.   

Meine letzte Erinnerung an Murad: die herzliche Begrüßung an seiner Tür, dass gemeinsame Sitzen in seinem kleinen Studierzimmer, sein dankbares lächeln über meinen Besuch, seine Neugierde darüber, was sich so in der muslimischen Community tut.  

Und seine materiellen Verdienste? Dafür gibt es ja die Bücher des Mentors; und die drei, die ich dankbarerweise mit ihm herausgeben durfte. Der Botschafter des Islam ist zu seinem Entsender zurückgekehrt.



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